Tageslosung
Die Herrnhuter Tageslosung
Hausgottesdienst Karfreitag, 2. April 2021

von Pfarrer Jochen-M. Spengler
J.S. Bach, Oboenkonzert d moll
Liebe Gemeinde,
ich begrüße Sie herzlich zum Hausgottesdienst an Karfreitag und freue mich sehr, dass Sie diesen Gottesdienst mitfeiern.
In meinem ersten Hausgottesdienst in diesem Jahr am 3. Januar habe ich bei mei-ner Begrüßung einen kurzen Blick zurück auf das Weihnachtsfest geworfen, das mir wegen der Corona bedingten Einschränkungen „ein wenig fremd“ vorgekommen war.
Und dann habe ich schon bald den Blick voraus gerichtet - und zwar mit folgenden Worten:
„Ich freue mich bereits jetzt auf unser nächstes großes Kirchenfest, das schon am 4. April stattfinden wird: das Osterfest.
An dieses Fest knüpfe ich in diesem Jahr noch mehr Hoffnungen als sonst:
Das Versprechen der Auferstehung soll mich tief durchdringen, die erwachende Frühlingsnatur soll mich beflügeln - und die Zahl der bis dahin geimpften Menschen soll meine Zuversicht groß machen und mich mit neuer Kraft und frischer Energie ausrüsten… in drei Monaten ist es bereits so weit.“
Tja, liebe Gemeinde, und nun stecken wir mitten in der dritten Coronawelle und die Sorgen sind bei vielen nicht kleiner als zu Weihnachten, als wir es mit der zweiten Welle zu tun hatten. Es ist tatsächlich frustrierend - im wahrsten Sinne des Wortes (lat. frustra = vergeblich, nutzlos, erfolglos, umsonst).
Meine Geduldreserven drohen so langsam zur Neige zu gehen, stelle ich bisweilen fest, und weiß doch: Ich werde noch einiges an Geduld aufbringen müssen, bis die-se Krise überstanden sein wird.
Aber irgendwann wird es soweit sein, und bis dahin muss ich durchhalten, müssen wir durchhalten. Dazu wünsche ich uns viel Zähigkeit und Kraft - und Gottes Hilfe.
Und jetzt wenden wir uns dem Karfreitag zu und einigen Fragen, die er stellt.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Hausgottesdienst - und ich grüße Sie und Ihre Familien ganz herzlich!
Ihr Pfarrer Jochen-M. Spengler
Wir feiern unseren Hausgottesdienst:
Im Namen Gottes, der Quelle unseres Lebens, die uns gibt, was wir zum Leben brauchen.
Im Namen Jesu Christi, unserem Freund und Bruder, durch den uns Gott etwas von seinem Wesen und seiner Liebe zu uns Menschen gezeigt hat.
Und im Namen des heiligen Geistes, einer Kraft, die uns in Gemeinschaft zusam-menhält und an schönen Tagen so richtig glücklich macht - und an traurigen Tagen die Zuversicht nicht verlieren lässt. Amen.

Wir lesen Verse aus dem Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 53,4+5:
Fürwahr, er trug unsere Krankheit
und lud auf sich unsere Schmerzen.
Wir aber hielten ihn für den, der geplagt
und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet
und um unserer Sünde willen zerschlagen.
Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten,
und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Lasst uns beten!
Jesus Christus,
du hast auf dich genommen, was kein Mensch ertragen kann: Sie haben dich ver-spottet, dir ins Gesicht gespieen und ein Kreuz aufgeladen. -
Du hast auf dich genommen, was kein Mensch verstehen kann:
Du hast auf deine Macht verzichtet und hast dich der Gewalt wehrlos ausgeliefert.
Daran denken wir heute, können es kaum ertragen und kaum verstehen.
Und so bitten wir dich: Komm auf uns zu und lass uns bei dir Trost finden.
Amen.
Herr stärke mich, deine Leiden zu bedenken (EG 91,1+4+5)
1. Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken,
mich in das Meer der Liebe zu versenken,
die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.

4. Gott ist gerecht, ein Rächer alles Bösen;
Gott ist die Lieb und lässt die Welt erlösen.
Dies kann mein Geist mit Schrecken und Entzücken am Kreuz erblicken.

5. Seh ich dein Kreuz den Klugen dieser Erden
ein Ärgernis und eine Torheit werden:
so sei’s doch mir, trotz allen frechen Spottes, die Weisheit Gottes.
Schriftlesung: Jesaja 52,13-15;53,1-12 > zum Mithören
Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder,
so wird er viele Heiden in Staunen versetzen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des Herrn offenbart?
Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.
Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war.
Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. So wollte ihn der Herr zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des Herrn Plan wird durch seine Hand gelingen.
Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.
Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.


- Stille Zeit -
Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Der Predigttext, den ich für den heutigen Karfreitag ausgewählt habe, steht im Matthäusevangelium im 27. Kapitel, die Verse 33-54. Und da steht:


Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,
gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken.
Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.
Und sie saßen da und bewachten ihn.
Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe
und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!
Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:
Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.
Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.
Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.
Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.
Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.
Und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf
und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!


Ich habe mich verändert, liebe Gemeinde.
Und der Wert dieser Geschichte, die ich uns eben vorgelesen habe, hat sich damit für mich ebenfalls verändert.
Was bedeutet dieser Bericht von dem qualvollen Tod Jesu am Kreuz heute für mich?
Ich will damit anfangen, was er mir früher bedeutet hat:
Mit großer Ehrfurcht habe ich immer vor dieser Geschichte gestanden.
Die Tapferkeit, mit der Jesus seine Qualen aushält, die Entschlossenheit, mit der er seinen Weg durch ein Spalier von Ungerechtigkeit, Willkür und brutaler Gewalt geht, beeindruckten mich zutiefst.
In Klammern stand in meinem Kopf allerdings daneben immer noch all das, was die Theologie in dieses Geschehen hineinzudeuten pflegt:
Hier geht es darum, dass ein Plan erfüllt wird, sagt sie: ein Heilsplan.
Hier leidet Gottes Sohn, sagt sie.
Er leidet stellvertretend für uns Menschen.
Und die Theologie sagt auch:
Drei Tage nach Golgatha ist das Grauen vorbei.
Und der Preis für die Tapferkeit, die Hingabe und die Leidensbereitschaft ist etwas ganz Wunderbares: Es ist die Auferstehung und das ewige Leben - nicht nur für Jesus, sondern für uns alle!
Wenn ich es mir recht überlege, liebe Gemeinde, so hatte die Passionsgeschichte für mich früher - neben all dem, was mich an ihr schon immer vollkommen sprachlos gemacht hat und heute noch macht - doch nur so etwas wie den Wert eines unschätzbar kostbaren Reliktes, etwas, was ich sozusagen hinter den Doppelscheiben einer schützenden Vitrine ansehen kann: erfüllt mit großer Ehrfurcht und bisweilen auch mit Zittern und Zagen.
Aber richtig lebendig geworden, und das heißt für mich in diesem Zusammenhang: wirksam in meinem Leben, bewegend und verändernd, stärkend und tröstend, ist sie, wenn ich ehrlich sein soll, nicht. -
Ich bin älter geworden, bin mittlerweile 61 Jahre alt, und ich habe mich verändert, liebe Gemeinde, wie wir das ja alle tun, weil uns das Leben mit seinen schönen und seinen traurigen Geschichten nicht stehenbleiben lässt.
Wir verändern uns - immer wieder.
Und für mich hat sich damit auch der Wert der Leidensgeschichte Jesu verändert.
Eine der wesentlichsten Veränderungen, die ich an mir beobachten kann, ist, dass ich Leid näher an mich heranlasse.
Heute, liebe Gemeinde, lasse ich es viel öfter als früher zu, dass mir Leid unter die Haut geht - und damit zumindest für eine gewisse Zeit ein Teil von mir wird.
Und dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um meinen eigenen Schmerz handelt oder den anderer Menschen, denen ich auf meinem Weg durchs Leben begegne.
Was war es, dass mich verändert hat? Vielleicht war es die eine oder andere Krankheit, der schlimme Schlaganfall meiner Mutter vor zwei Jahren, möglicherweise Erlebnisse in meinem Beruf, bei denen ich gelernt habe, dass Angst und Schmerz untrennbar zum Leben dazugehören - und dass es überhaupt keinen Sinn hat, auszuweichen oder abzublocken, wegzusehen oder davonzulaufen.
Und vor Kurzem hat mir der Abschied von unserem geliebten Kater Bruno, der sechzehn Jahre sein Leben mit uns geteilt hat, auch noch einmal eine Lektion erteilt.
All diese an sich traurigen und belastenden Ereignisse und Erlebnisse haben mich verändert - und haben etwas bewirkt:
Heute kann ich direkter, mutiger und auch inniger auf Menschen zugehen, die in Not geraten sind.
Früher habe ich mich bisweilen ängstlich neben die Menschen und ihr Leid gesetzt, heute schaffe ich es manchmal, mich wirklich zu ihnen ins Boot zu setzen.
Und ich merke dabei, auch wenn ich meistens bestimmt noch nicht vollständig gelassen bin, wie ich zusammen mit dem leidenden Menschen an meiner Seite, der klagt oder weint, der hofft oder verzweifelt, der spricht oder schweigt, die Urkraft des Lebens spüren kann, selbst wenn uns der Tod belauert.
Und diese Urkraft des Lebens kommt zu uns, weil noch jemand bei uns zu sitzen scheint, der das Leid kennt - wahrscheinlich besser kennt, als es die meisten Menschen kennen:
Leid, das er nicht verdient hat;
Schmerz, der schlimmer ist, als man ihn aushalten kann;
Verzweiflung, die größer nicht sein kann, dazu Momente der totalen Verlassenheit von den Menschen und von Gott -
und am Ende der Schrei: Warum?, ein Schrei, der in jedem Leidenden irgendwann schreit: Warum? - ein Schrei, der weiß, dass es auf diese Frage keine Antwort geben wird. -
Liebe Gemeinde,
Jesus ist mir in seinem Leiden Vorbild und Freund geworden, und er bringt mir dadurch, dass er im Leid ganz und gar Mensch ist und schließlich mit einem letzten verzweifelten Schrei auf den Lippen stirbt, die Urkraft des Lebens.
Das, was ich hier sage, muss erst einmal ganz und gar widersinnig erscheinen, denn wie kann jemand der qualvoll stirbt zum Boten von Leben werden?
Wie kann ein blutender, schwitzender, zuckender Leib am Kreuz für Leben stehen, für die Kraft des Lebens, für Aufgehen und Gedeihen und Blühen - für die Urkraft des Seins, das in alle Ewigkeit stärker sein wird als das Nicht-Sein, als der Tod?
Diese Gleichung geht doch nur auf, wenn man aus dem Menschen Jesus von Nazareth den Sohn Gottes macht, der seinen Leidensweg deshalb geht, weil Gott selbst das so will.
Und eine solche Gleichung kann doch eigentlich nur der verstehen, der Jesus geradewegs auf seine Auferstehung zusterben sieht. Wie sollen Leid und Tod sonst vom Leben singen können? -
Liebe Gemeinde,
vor einigen Jahren habe ich einige Male mit einer Frau zusammengesessen, die an einer schweren Krebserkrankung litt.
Die Krankheit war unerwartet und böse in ihr Leben eingebrochen, das Leid, das sie aushalten musste, war in meinen Augen durch und durch ungerecht.
Das, was die Operationen und Chemotherapien mit der Zeit aus ihrem Körper machten, war bestimmt nicht besser als ein von Peitschenhieben blutig aufgeplatzter Rücken und Nägelmale an Händen und Füßen.
Aussicht auf Heilung gab es schon bald keine mehr.
Wir haben uns über dies und das unterhalten:
Wir haben über ihre Hoffnung gesprochen, Hoffnung auf das Gewinnen von Zeit.
Wir haben über ihre Ängste gesprochen: Angst vor den Schmerzen, Angst vor dem Sterben, wenn es doch schon bald so weit sein sollte, und über die Angst vor der Angst.
Und wir haben zusammen das Abendmahl gefeiert.
Selten habe ich so intensiv spüren können, dass tatsächlich noch jemand bei uns war, als wir uns das Brot gereicht haben und den Traubensaft getrunken haben.
Jesus war bei uns.
Und er hat zu uns nicht von Auferstehung gesprochen und vom ewigen Leben, sondern er hat geschwiegen und hat uns beide still bei der Hand gehalten.
Uns hat das gut getan.
Schließlich haben wir zusammen gesungen.
Ich hatte die Gitarre mitgebracht, und erst erschien es mir ein bisschen merkwürdig, das Instrument in dem fremden Wohnzimmer auszupacken und in die Hand zu nehmen, zumal mir die kranke Frau gesagt hatte, dass sie nicht würde mitsingen können: Ihr Mund wäre so trocken und sie hätte so große Mühe beim Schlucken.
Ich habe dann erst einmal alleine gesungen - aber schließlich hat sie mitgesummt.
Ich weiß gar nicht mehr, welches die beiden Lieder waren, die wir gesungen haben, ich glaube eines war das bekannte: Wenn das Brot, das wir teilen als Rose blüht.
Als ich das letzte Mal bei ihr war, ging es ihr schon sehr schlecht, und ich habe auf der Heimfahrt zu Gott gesprochen und ihn eindringlich gebeten, dass ihr Leid nicht mehr so lange dauern möge.
Ein paar Tage später kam sie ins Krankenhaus, schließlich in ein separates Zimmer, wie das am Ende manchmal so ist, und dann ist sie gestorben.
Ich habe sie in diesen Tagen nicht mehr gesehen. Und doch konnte ich mir ein bisschen ausmalen, was sie durchmachen musste und wie sie aufgewühlt war:
Warum?, hat es in ihr geschrien.
Warum hast du mich verlassen?
Warum Gott?
Und zugleich, davon bin ich überzeugt, hat sie in ihrem tiefsten Innern gewusst, dass Gott sie eben nicht verlassen hat, sondern dabei ist, mit ausgestreckter Hand auf sie zuzugehen, um mit ihr zusammen den Weg in den Himmel zu gehen.

Liebe Gemeinde, Jesus ist uns im Leiden vorangegangen.
Er ist für mich der glaubwürdigste Zeuge des Leidens, denn er hat den bitteren Kelch bis zur Neige ausgetrunken.
Sein Verhandeln und Hadern, sein Zittern und Klagen - und sein verzweifelter Schrei: Warum? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? ist für mich die Richtschnur, an die ich mich gerne halten möchte, wenn ich einmal sterben muss.
Ich brauche nicht zuversichtlich und erlöst dreinschauen, wenn der Tod nach mir greift.
Ich darf es so tun, wie Jesus es getan hat. Zumindest so ähnlich: mit aller Angst und allen Tränen. Wer so ehrlich stirbt, wie unser Freund und Bruder, Jesus, ist für mich der Maßstab für Würde im Sterben. Und wer dem Tod so wenig vormacht, so wenig entgegenzusetzen scheint, der versichert mir ohne Worte und ohne Eid und ohne Schwur, dass es die Urkraft des Lebens gibt: Für ihn, für uns, für alle.
Und diese Kraft überlässt nur für eine kurze Weile dem Tod das Feld, dann bricht sie durch und sorgt für Aufgehen und Gedeihen und Blühen.
Nennen Sie es Auferstehungstheologie, die ich hier predige, liebe Gemeinde.
Ich nenne es Hingezogensein zu dem Menschen aus Nazareth, der meine Hand hält, meiner Hoffnung ohne Worte Nahrung gibt und mich spüren lässt, dass das Leben siegt. Immer siegt. Immer.
Dieser Mensch aus Nazareth ist so, wie ich mir Gott wünsche, und deshalb kann ich ihn auch vorbehaltlos Gottessohn nennen - so wie ich ihn manchmal auch in Gedanken Menschensohn nenne. Er ist meine Hoffnung:
Weil er ehrlich ist - und er überzeugt mich, auch wenn alles gegen ihn zu sprechen scheint. -

Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür,
wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten Kraft deiner Angst und Pein.


Das, liebe Gemeinde, ist für mich die Botschaft der Geschichte, die sich auf Golgatha zugetragen hat. Und die ist für mich jetzt nicht mehr hinter der Doppelscheibe einer schützenden Vitrine wie ein kostbares Relikt, sondern sie lebt in meinem Herzen.
Und sie singt und sie singt von der Urkraft des Lebens. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
J.S. Bach, Ouvertüre Nr. 3, „Air“ )
Lasst uns beten!
Jesus Christus, wir stehen unter deinem Kreuz.
Du gehst den Weg des Leidens. Du verzichtest auf Macht und lässt dich hineinziehen in das Elend und die Not unseres Lebens. So willst du uns retten.
Christus am Kreuz, wir rufen zu dir: Herr, erbarme dich!
Wir sehen dein Kreuz, und erkennen die Hartherzigkeit und den Unfrieden dieser Welt.
Lass uns nicht abseits stehen, sondern in deinem Leiden bei dir bleiben.
Hilf, dass wir eigenes und fremdes Leid nicht verdrängen oder überspielen, sondern lernen, es anzunehmen und mitzutragen.
Christus am Kreuz, wir rufen zu dir: Herr, erbarme dich!
Wir sehen dein Kreuz und erkennen, wie du für uns einstehst.
Lass uns dir folgen auf dem Weg zu den Geringsten und Verachteten, zu den Gescheiterten, zu denen, die auf den Wegen der Macht und des Erfolges übersehen werden.
Christus am Kreuz, wir rufen zu dir: Herr, erbarme dich!
Wir sehen dein Kreuz und erkennen deine Barmherzigkeit.
Du trägst unsere Schuld, damit wir aufatmen und als freie Menschen leben können.
Lass uns barmherzig miteinander umgehen, auch mit den Menschen, die uns unbequem sind und Mühe machen.
Hilf, dass wir nicht übereinander zu Gericht sitzen, bewahre uns vor Hochmut.
Christus am Kreuz, wir rufen zu dir: Herr, erbarme dich!
Jesus Christus, wir stehen unter deinem Kreuz. Lass uns nicht Zuschauer bleiben. Hilf, dass wir es wagen, deinen Weg zu gehen, den Weg der Liebe und Barmherzigkeit.

In unserem stillen Gebet können wir dir, Gott, all das anvertrauen, was uns auf dem Herzen liegt…
Wir bitten um Gottes Segen!

Der Herr segne uns und behüte uns;
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über uns
und sei uns gnädig;
der Herr erhebe sein Angesicht auf uns
und gebe uns Frieden. Amen.
J.S.Bach - Matthäus-Passion - Wir setzen uns mit Tränen nieder